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Vorgeschichte

Pädagogische Lehrveranstaltungen in Göttingen 1770-1803

Katharina Vogel

Die Geschichte der Pädagogik als wissenschaftliches Interessengebiet der Georg-August-Universität beginnt nicht erst mit der Gründung des Pädagogischen Seminars im Jahr 1920, auch nicht mit dem Eintreffen der pädagogischen und später erziehungswissenschaftlich rezipierten Prominenz Johann Friedrich Herbarts im Jahr 1802. Schon seit der Berufung Johann Peter Millers an die Theologische Fakultät im Jahr 1766 werden – an ihrer Titelsemantik mal mehr, mal weniger deutlich erkennbare – ‚pädagogische‘ Lehrveranstaltungen an der Georg-August-Universität angekündigt (vgl. die anhängende Zeittafel).

Miller, dessen Schrift „Grundsätze einer weisen und christlichen Erziehungskunst“ 1769 im Göttinger Verlag „Daniel Friedrich Kübler“ erscheint, wird bis zu seinem Tod 1789 zur zentralen Figur bei der Etablierung der wissenschaftlichen Pädagogik in der universitären Lehre – und das nicht nur in der Theologischen Fakultät: in den Jahren 1770 und 1771 bietet August Ludwig von Schlözer, seit 1769 ordentlicher Professor an der Philosophischen Fakultät, Lehrveranstaltungen zur „Erziehungskunst“ (GGA vom 13.9.1770, S. 962) bzw. zur Frage, „wie man Kinder erziehen muß“ (GGA vom 19.9.1771, S. 971) an und „legt dabey des Hrn. D. Millers Anweisung zum Grunde“ (ebd.). Die Zusammenarbeit mit der Philosophischen Fakultät setzt sich in den nächsten Jahren fort: im Jahr 1776 arbeiten Miller und der Professor für Philosophie Johann Heinrich Feder, der mit seiner kontroversen Schrift „Der neue Emil oder von der Erziehung nach bewährten Grundsätzen“ (1774) bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad im wissenschaftlich-pädagogischen Diskurs seiner Zeit erlangt hatte, offenbar im Bereich der Lehre zusammen: auf die „Disputirübungen“ Feders „über pädagogische Gegenstände“ (GGA vom 2.3.1776, S. 225) verweist Miller in seiner Ankündigung wie folgt:

„Die Pädagogik wird Hr. D. Miller dreymal in der Woche öffentlich lehren. Hieher gehören auch Hrn. Prof. Feders vorher angezeigte Disputirübungen.“

(GGA vom 2.3.1776, S. 226).

Im selben Jahr kündigt auch „Herr Candidat Eckard“ im Lehrverzeichnis der Philosophischen Fakultät an, „auf besonderes Verlangen nach Hrn D. Millers Grundsätzen Rathschläge geben, und zuweilen in Gegenwart seiner Freunde Unterrichtsübungen mit Kindern anstellen; auch den Werth oder Unwerth gewisser neuer Bücher zum Unterrichte prüfen“ (GGA vom 29.8.1776 S. 890).

Nach Millers Tod ist es insbesondere der Privatdozent Wilhelm Friedrich Lehne, der die Pädagogik u.a. auf Basis seines 1799 erschienenen „Handbuch der Pädagogik nach einem systematischen Entwurfe“ (für wenige Jahre) vertritt, wobei sich bis 1803 nach wie vor regelmäßig Spuren der universitären Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Pädagogik in den Lehrverzeichnissen finden; obgleich es nicht allein Miller ist, der der wissenschaftlichen Pädagogik an der Georg-August-Universität eine Bühne bereitet, ist seine zentrale Rolle bei der Etablierung des wissenschaftlich-Pädagogischen Diskurses sowohl an der Theologischen als auch an der Philosophischen Fakultät unbestritten:

„Er hatte die Studien eines Schulmannes mit in die Theologie hinübergebracht. Seine Verdienste um die christliche Moral und um die Pädagogik, auf welche er zuerst die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen erweckte, ehe noch die turbulente Zeitperiode der pädagogischen Schriftstellerey eintrat, werden unvergeßlich bleiben.“

(GGA vom 13.6.1789, S. 953)

Ob im Spiegel universitärer Lehrveranstaltungen (vgl. die Zeittafel) oder im Spiegel wissenschaftlich-pädagogischer Schriften (z.B. Feders „Aphorismi Paedagogici“, 1776; Lehnes „Dissertatio Systematis Disciplinae Paedagogicae Conspectvm Exhibens“ – (wissenschaftliche) Pädagogik ist an der Georg-August-Universität ‚vor Herbart‘ bzw. ‚vor Nohl‘ nicht bloß latent existent, sondern explizit Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses; im Gegensatz zur Pädagogik Herbarts und/oder Nohls ist sie bis heute allerdings weitestgehend unerforscht.

>>>> Kommentar: Dieses Thema ist Gegenstand des aktuellen Projektes „EWiG – Erziehungswissenschaftliche Wissensgeschichte 1750-2000


Herbart in Göttingen

Johann Friedrich Herbart lehrte nach seiner Promotion und Habilitation im Jahr 1802 zunächst als Privatdozent, seit 1805 als außerordentlicher Professor für Philosophie. 1806 erscheint seine „Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet“ bei Röwer in Göttingen. 1809 nahm er den Ruf aus Königsberg zur Wiiederbesetzung des Lehrstuhl Kants an. 1833 kehrte Herbart nach Göttingen zurück. Sein Grab findet sich auf dem Albani-Friedhof in Göttingen.

Zur Wirkung Herbarts in der Pädagogik und zu seiner Rolle im Rahmen der Proteste der ‚Göttinger Sieben‘ siehe:

  • Berthold Michael (1987): Johann Friedrich Herbart – Erziehungswissenschaft, Lehrerbildung, Politik. S. 50-82 in: Dietrich Hoffmann (Hrsg.): Pädagogik an der Georg-August-Universität Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
  • Rotraud Coriand (2012) [Art.]: Johann Friedrich Herbart (1776-1841). S. 31-31 in: Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft, Band 2. Bad Heilbrunn: Klinkhardt

Die Vorgeschichte des Pädagogischen Seminars

Klaus-Peter Horn

Die lange Vorgeschichte des Instituts für Erziehungswissenschaft reicht bis in die Gründungsphase der Georgia Augusta im 18. Jahrhundert zurück (s. ausführlich dazu Friedland 1959; Herrlitz 1987). Bereits in deren Gründungsjahr 1737 wurde für die Ausbildung der Lehrer an höheren Schulen ein Philologisches Seminar errichtet, in dem vornehmlich Studenten der Theologie, die in dieser Zeit die Hauptgruppe der höheren Lehrer stellten, auf ihre Tätigkeit an den Schulen vorbereitet werden sollten. Im Zentrum dieses Philologischen Seminars, des ersten an einer deutschen Universität, standen die „Schulwissenschaften“, also die Unterrichtsfächer der höheren Schule „lateinische und griechische Grammatik, Übersetzungsübungen und Lektürekurse, Rhetorik und Altertumskunde, daneben auch ein wenig Mathematik und Astronomie, Physik, Geschichte, Geographie und Genealogie und selbstverständlich Philosophie“ (Herrlitz 1987, 88). Daneben standen „pädagogische[.] Übung und praktische[.] Erfahrung“ in einer „Übungsschule“ (ebd.). Damit stellte das Philologische Seminar in gewisser Hinsicht den Vorläufer des ersten Pädagogischen Seminars der Universität Göttingen dar, das in Planungen um 1837 erstmals auftauchte, 1843 ein erstes und 1846 ein zweites, leicht überarbeitetes Statut erhielt und schließlich 1849 endgültig genehmigt wurde.

Dieses Pädagogische Seminar stand in einer sehr engen Verbindung zum Philologischen Seminar und bildete eine Art „Aufbaustufe“ (Herrlitz 1987, S. 99) dazu. Es bestand aus zwei Abteilungen. Die erste, wissenschaftliche Abteilung, wurde von einem Professor geleitet, allerdings von einem Professor der klassischen Philologie – einen Professor der Pädagogik oder gar Erziehungswissenschaft gab es damals noch nicht. Hier konnten bis zu vier Absolventen des Philologischen Seminars, die sich bewährt hatten und denen „vor ihrem Eintritte in den wirklichen Beruf eine erweiterte Gelegenheit zur unmittelbaren, theils theoretischen, theils praktischen Vorbereitung zu diesem“ (Statut § 1, Nachrichten 1846, S. 9) angeboten werden sollte, für ein Jahr Aufnahme finden, wobei diese Aufnahme mit einem „Beneficium“ (Statut § 4, Nachrichten 1846, S. 10), also einem Stipendium verknüpft war. Die Studenten kamen wöchentlich zu zwei- bis vierstündigen Übungen zusammen, in denen Abhandlungen pädagogischen Inhalts aus ihrer Feder diskutiert und Vorträge gehalten wurden (Statut § 6, Nachrichten 1846, S. 11). Darüber hinaus konnten die Studenten bereits in dieser ersten Abteilung eigene Unterrichtsversuche und eine Probelektion durchführen, wofür sie sich aber an den Direktor der zweiten Abteilung wenden mussten (Statut § 8, Nachrichten 1846, S. 12).

Direktor der zweiten, praktischen Abteilung war der Direktor des Göttinger Gymnasiums (Statut § 2). Hier wurden zunächst zwei, später vier Bewerber für zwei Jahre aufgenommen, die die erste Abteilung samt Probelektion sowie das daran anschließende Lehrer-Examen erfolgreich absolviert hatten. Die aufgenommenen Kandidaten erhielten eine „Remuneration“, also ebenfalls ein Stipendium (Statut § 9, Nachrichten S. 12f.). Im Mittelpunkt stand die Schulpraxis: die aufgenommenen Kandidaten mussten als „Hülfslehrer“ in reduziertem Umfang Unterricht geben (12 Stunden in unteren oder mittleren Klassen, s. Statut § 10, Nachrichten 1846, S. 13). Zudem fanden regelmäßige Besprechungen mit dem Direktor über Pensum und Vorbereitung, Durchführung und Methode der Unterrichtsstunden statt (Statut § 11, Nachrichten 1846, S. 13f.). Der Direktor hospitierte bei den Hilfslehrern, die wiederum selbst auch bei anderen, erfahrenen Lehrern hospitieren sollten (Statut § 12, Nachrichten 1846, S. 14).

In wöchentlichen Konferenzen von Direktor und Hilfslehrern sollten

„a) ihr Unterricht geprüft und beurtheilt, 
b) Gegenstände der Gymnasialdisciplin besprochen, 
c) Relationen und Kritiken über Schulbücher und pädagogische Schriften erstattet,
d) Abhandlungen über Gegenstände des Unterrichts vorgelegt und vertheidigt, auch
e) von den einzelnen Candidaten Mittheilungen über ihre eigenen Studien und die Literatur ihrer besonderen Fächer gemacht werden.“

Statut § 13, Nachrichten 1846, S. 14

1889/90 kam das Ende des Pädagogischen Seminars, als in Preußen, wozu Göttingen ja inzwischen gehörte, eine neue Ausbildungsordnung für das höhere Lehramt erlassen wurde, die eine zweijährige Vorbereitungszeit nach dem Studium, bestehend aus einem Seminarjahr und einem Probejahr, vorsah. Damit entfiel die Existenzgrundlage des Göttinger Pädagogischen Seminars, für das sich nunmehr keine neuen Bewerber mehr fanden. Allerdings gab es keinen förmlichen Auflösungsbeschluss, so dass das Pädagogische Seminar de jure weiter existierte (Friedland 1959; Herrlitz 1987, S. 105f.).

Dieses erste Pädagogische Seminar stellte in seiner Konstruktion eher einen Vorläufer der späteren außeruniversitären Studienseminare dar als den eines Universitätsinstituts. Ein pädagogisches Universitätsinstitut im engeren Sinne wurde in Göttingen erst nach der 1919 erfolgten Berufung Herman Nohls auf eine Professur für Pädagogik eingerichtet. Nohl wurde zunächst auf ein Extraordinariat für praktische Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Pädagogik berufen, das kurz darauf in ein persönliches Ordinariat umgewandelt wurde, bevor 1921/22 eine ordentliche Professur für Pädagogik eingerichtet wurde – die erste ordentliche Professur für dieses Fach in Preußen überhaupt. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde Nohl im Juli 1920 zum Direktor des Pädagogischen Seminars ernannt, das „seit 1892 nicht mehr gearbeitet“ hatte, (Chronik 1922, S. 21) und das Seminar zugleich „mit erheblichen neuen Mitteln ausgestattet“(ebd.).

Literatur

  • Abschied von einer Fakultät. Ansprachen auf der akademischen Veranstaltung aus Anlaß der Auflösung der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät am 8. Februar 1999. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999.
  • Friedland, Klaus: Das Pädagogische Seminar zu Göttingen 1837-1891. Ein Beitrag zur Geschichte der Lehrerbildung im Zeitalter des Neuhumanismus. In: Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 1, 1959, S. 85-103.
  • Hoffmann, Dietrich (Hrsg.): Pädagogik an der Georg-August-Universität Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987.
  • Kuss, H.: Von der Pädagogischen Hochschule zum Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Göttingen (1946-1986). In: Georgia Augusta, Bd. 45 (1986), S. 47-57.
  • Kuss, H.: Zehn Jahre Fachbereich Erziehungswissenschaften. In: Georg-August-Universität Göttingen: Informationen Nr. 5/1988, S. 10-12. (B)
  • Nachrichten von der G. A. Universität und der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. 1846 (Philologisches und pädagogisches Seminarium).
  • Neumann, Karl (Hrsg.): Vierzig Jahre Pädagogische Hochschule Göttingen. Jubiläumsfeier am 7. und 8. Februar 1986 im Fachbereich Erziehungswissenschaften der Georg-August-Universität Göttingen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986.
  • Ratzke, Erwin: Das Pädagogische Institut der Universität Göttingen. Ein Überblick über seine Entwicklung in den Jahren 1923-1949. In: Becker, H. u.a. (Hrsg.): Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. München: 1987, S. 200-218.
  • Rheinländer, Kathrin (Hrsg.): Göttinger Pädagogik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hamburg: Kovac 2009.
  • Tütken, Johannes: Die Anfänge der Lehrerausbildung an der Georgia Augusta – Ein weiteres Jubiläum dieses Jahres. In: Georg-August-Universität Göttingen: Informationen Nr. 2/1987, S. 5-8. (B)
  • Tütken, Johannes/Hoffmann, Dietrich: Zur Entwicklung der Pädagogik in Göttingen. In: Schlotter, Hans-Günther (Hrsg.): Die Geschichte der Verfassung und die Fachbereiche der Georg-August-Universität Göttingen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 295-306.